Zur Vornahme einer Schönheitsoperation bei Verdacht auf eine psychische Störung

BGH, Urteil vom 15.12.2015 – VI ZR 557/15

Zur Vornahme einer Schönheitsoperation bei Verdacht auf eine psychische Störung (hier: Dysmorphophobie).

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 29. September 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 41.500 €

Gründe
I.

1
Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Die am 6. April 1978 geborene Klägerin leidet unter einer körperdysmorphen Symptomatik mit Hang zur Autoaggression. Aus diesem Grund fügte sie sich als Jugendliche über Jahre hinweg an beiden Armen, den Oberschenkeln und am Gesäß Ritznarben, Schnittverletzungen und Verätzungen zu. Aufgrund der autoaggressiven Handlungen weist sie eine Vielzahl, teilweise entstellender Narben auf und unterzog sich bereits mehrfach operativen Narbenkorrekturen. Seit dem Jahr 2007 unterzieht sich die Klägerin wegen ihrer psychischen Probleme zweimal pro Woche einer Psychotherapie. Im Jahr 2007 ließ die Klägerin aus ästhetischen Gründen eine Korrektur der Nasenscheidewand vornehmen. Im Juni 2008 stellte sie sich in der Praxis des Beklagten, einem Arzt für plastische und ästhetische Chirurgie, vor. Sie äußerte den Wunsch nach einer Schlupflidkorrektur. Der Beklagte beriet sie dahingehend, dass ihr Augenlid nur durch Straffung der Stirnhaut gehoben werden könne. In der Folge entschied sich die Klägerin für die Durchführung eines sogenannten offenen Stirnlifts, bei dem auch Zornesfalten beseitigt werden sollten. Im Rahmen des Aufklärungsgesprächs beantwortete die Klägern die Frage: „Neigen Sie zu überschießender Narbenbildung (Keloide)?“ mit „ja“. Am 23. August 2008 erfolgte der ästhetische Eingriff. Dieser hinterließ bei der Klägerin eine sichtbare, im Haaransatz befindliche und haarlose Narbe, welche sie sehr störte. Am 21. November 2009 führte der Beklagte deshalb eine Narbenkorrektur durch. Am 28. März 2012 unterzog sich die Klägerin einer weiteren Narbenkorrektur in der Schweiz, bei der auch Haarwurzeln transplantiert wurden. Mit der Klage begehrt die Klägerin ein Schmerzensgeld von nicht unter 20.000 €, die Erstattung der Operationskosten vom 23. August 2008 und 21. November 2009 in Höhe von 3.000 € sowie der Kosten der Revisionsoperation vom 28. März 2012 in Höhe von 3.500 €. Weiter begehrt sie die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche weiteren zukünftigen materiellen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus der fehlerhaften Behandlung resultieren. Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

2
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte sei auch nicht deshalb zum Schadensersatzanspruch verpflichtet, weil ihm ein Befunderhebungsfehler unterlaufen sei, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

3
1. Das Berufungsgericht hat insoweit ausgeführt, der Beklagte habe zwar eine gebotene Abklärung unterlassen. Er habe dem Hinweis der Klägerin auf überschießende Narbenbildung nachgehen und die Klägerin psychiatrisch explorieren müssen. Die unterlassene Befunderhebung habe sich aber nicht ausgewirkt. Selbst wenn der Befunderhebungsfehler als „grob fahrlässig“ einzustufen sei, sei ausgeschlossen, dass der Beklagte von der Operation habe absehen müssen. Die bei der Klägerin zugrunde zu legende körperdysmorphe Störung (BDD = body dismorphic disorder) sei nur eine bedingte Kontraindikation für ein offenes Stirnlifting. In derartigen Fällen hänge die Entscheidung für oder gegen die Operation von dem Ermessen des Arztes ab. Erweise sich die Operation – wie im Streitfall – als durchführbar, komme es nicht darauf an, ob der Arzt sein Ermessen ausgeübt habe. Denn einerseits könne ästhetische Chirurgie bei milden Formen von BDD eine sinnvolle Therapieoption sein. Andererseits stellten schwere Störungen, bei denen sich der Patient immer wieder operieren lassen wolle, eine Kontraindikation dar. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor. Der Sachverständige habe die Schwere der bei der Klägerin gegebenen Störung am unteren Ende der Skala eingeordnet. Dies sei nachvollziehbar, weil die Klägerin sich bislang nicht immer wieder habe operieren lassen, sondern vor der hier durchgeführten Operation lediglich ein einziges Mal an der Nase. Mit dem Ergebnis dieser Operation sei sie offensichtlich zufrieden gewesen, weil die Operation zu einer gewissen Besserung geführt habe. Diese Einordnung habe der Sachverständige im Nachhinein treffen dürfen, weil er die Klägerin untersucht und das Gutachten von Prof. Dr. G. ausgewertet habe.

4
2. Gegen diese Erwägungen wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde mit Erfolg. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der dem Beklagten unterlaufene Befunderhebungsfehler habe sich nicht ausgewirkt, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

5
a) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht das mit der Klageschrift vorgelegte Gutachten der Schlichtungsstelle zu Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammer vom 20. Dezember 2011 unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG übergangen hat. In diesem Gutachten ist ausgeführt, dass die Operation in der vorgegebenen Situation nicht hätte durchgeführt werden dürfen. In dem um anamnestische Angaben ergänzten Aufklärungsformular sei die Frage der überschießenden Narbenbildung bejaht worden. Eine Kontrolle dieser Antwort durch den Beklagten hätte zur Kontrolle der zahllosen Narben an beiden Armen und Beinen geführt, die bereits dem laienhaften Betrachter ein tieferliegendes psychisches Problem offenbart hätten. Es sei davon auszugehen, dass dem Beklagten spätestens zum Zeitpunkt der Operationsvorbereitung die typischen Zeichen der bei der Klägerin vorliegenden Autoaggressionserkrankung nicht verborgen geblieben wären. Ob diese Zeichen letztlich im Sinne eines Dysmorphophobiesyndroms zu bewerten seien, könne dahingestellt bleiben, da die Zeichen einer Autoaggressionserkrankung ohne vorangegangene Abklärung eine Kontraindikation zur Durchführung des Brauen-Lifts darstellten.

6
Diese Ausführungen der Schlichtungsstelle stehen in klarem Widerspruch zu den Angaben des gerichtlichen Sachverständigen. Auf diesen Widerspruch hatte die Klägerin mehrfach, u.a. in der Berufungsbegründung, hingewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht diesen Widerspruch – auch von Amts wegen – hätte aufklären müssen. Denn der Tatrichter ist verpflichtet, den ihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen (vgl. Senatsurteile vom 23. März 2004 – VI ZR 428/02, VersR 2004, 790, 791; vom 8. Juli 2008 – VI ZR 259/06, VersR 2008, 1265 Rn. 25, jeweils mwN).

7
b) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet darüber hinaus zu Recht, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Frage, wie schwer die körperdysmorphe Störung bei der Klägerin war, die Ausführungen des Privatsachverständigen Prof. Dr. G. in seiner mit der Klageschrift vorgelegten Stellungnahme vom 11. Januar 2011 unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht berücksichtigt hat. Nach den Ausführungen des Privatsachverständigen war die Klägerin seit Mai 2007 bei ihm in fortlaufender psychotherapeutischer Behandlung. Sie leide an einer schweren strukturellen Störung. Anamnestisch stehe eine mit 13 Jahren beginnende Essstörung und ein mit 16 Jahren begonnenes stark selbstverletzendes Verhalten zur Regulation von Bedürfnis- und Affektspannungen im Vordergrund. Wegen dieser Symptome sei die Klägerin mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen. Als Folge des selbstverletzenden Verhaltens habe sie großflächige Narben an Armen, Beinen und am Gesäß. Diese sachverständigen Ausführungen stehen einer Einordnung der Schwere der bei der Klägerin vorliegenden körperdysmorphoben Störung am unteren Rand der Skala entgegen. Dies gilt umso mehr, als der gerichtliche Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten angegeben hatte, die Frage, ob bei der Klägerin die Diagnosekriterien der BDD erfüllt seien, sei von einem psychiatrischen/psychologischen Gutachter zu klären und entziehe sich seiner Kenntnis.

8
c) Die Gehörsverletzungen sind entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

III.

9
Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde in der Beschwerdebegründung zu befassen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken. Es wird dabei insbesondere zu berücksichtigen haben, dass nicht nur der Gutachter der Schlichtungsstelle, sondern auch der von der Klägerin hinzugezogene Privatsachverständige Prof. Dr. Dr. M. einen nicht genau abgeklärten Verdacht auf Dysmorphophobie oder andere psychische Störungen als Kontraindikation für ästhetisch-chirurgische Maßnahmen angesehen hat. Ausweislich seines von der Klägerin zur Akte gereichten Gutachtens vom 31. Juli 2014 bedarf die Verdachtsdiagnose Dysmorphophobie einer fachärztlichen oder psychologischen Abklärung. Selbstwahrnehmungsstörungen des Körpers träten in der Bevölkerung mit einer Ambivalenz zwischen 1 bis 2 % auf. Die Patientinnen und Patienten häuften sich in der ästhetisch-chirurgischen oder ästhetisch-dermatologischen Praxis, wo sie bis zu 18% des Klientels ausmachten, wovon circa 5 % als schwere Fälle einzustufen seien. Die Risikogruppe, die hier besonders auffalle, seien Studentinnen: Danach sei zu entscheiden, ob eine geeignete Behandlung möglich erscheine, z.B. eine kognitive Verhaltenstherapie, und ob die Patientin dazu bereit sei. Bis dahin sei von ästhetisch-chirurgischen Maßnahmen abzusehen. Die zurückhaltende Einstellung gegenüber ästhetischen Operationen bei Patientinnen und Patienten mit Dysmorphophobie folge den Empfehlungen der Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften, wo sie das Querschnittsgebiet der ästhetischen Chirurgie berührten. In diesem Zusammenhang hat sich der Privatgutachter insbesondere auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V. zu Formstörungen der inneren und/oder äußeren Nase, der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zur ästhetischen Botulinumtoxin-Therapie und der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin und der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie zur Psychosomatischen Dermatologie bezogen. Das Berufungsgericht wird darauf hinzuwirken haben, dass sich der gerichtlich bestellte Sachverständige mit der Bedeutung dieser Leitlinien für die Beurteilung des vorliegenden Falls auseinandersetzt (vgl. zur Bedeutung von Leitlinien: Senatsurteil vom 15. April 2014 – VI ZR 382/12, VersR 2014, 879 Rn.17; Hart, GesR 2011, 387, 389; ders., MedR 2015, 1, 2; 426; Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Auflage, Kapitel X Rn. 11, jeweils mwN).

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